FOKUS
Veröffentlicht am 20.10.23
Wie beeinflussen Angebotsgestaltungen das Medienhandeln junger Menschen?
Torsten Krause, SDCZusammenfassung der Untersuchung „Dark Patterns und Digital Nudging in Social Media - wie erschweren Plattformen ein selbstbestimmtes Medienhandeln?“
Für die Bayerische Landeszentrale für neue Medien untersuchten Kammerl et al., wie manipulative Mechanismen (Digital Nudging und Dark-Patterns) anhand von Gestaltungsmerkmalen, Strukturen und Designoberflächen der Plattformen funktionieren sowie, ob junge Menschen diese Mechanismen erkennen und welche Gefahren von einer daraus resultierenden exzessiven Mediennutzung ausgehen können. Dabei stützen sich die Autor*innen auf eine Literaturauswertung, die Begutachtung exemplarischer Social Media Angebote sowie auf Interviews mit jungen Nutzenden von Social Media. Insgesamt wurden rund 70 neu recherchierte wissenschaftliche Fachbeiträge berücksichtigt, fünf Dienste (WhatsApp, TikTok, Instagram, Snapchat und YouTube) untersucht und elf Jugendliche interviewt.
Für die Auswertung der Literaturrecherche haben sich die Autor*innen auf die exzessive und suchtähnliche Nutzung von Social Media fokussiert. Von besonderem Interesse war, ob eine zunehmend ausufernde Nutzung als selbstbestimmtes Handeln angesehen werden muss oder ob möglicherweise eine Abhängigkeit von Social Media zu beobachten ist, welche als eine von den Anbietern mitverursachte Unfähigkeit verstanden werden müsste, die Social Media Nutzung so zu regulieren, dass sie zu keinen negativen persönlichen Folgen für die jungen Nutzenden führt. Allgemein wurde deutlich, dass medienzentrierte Annahmen, die von einem starken negativen Einfluss einer Social Media Nutzung auf das psychische Wohlbefinden ausgehen, im Ergebnis durch die vorliegenden empirischen Befunde nicht gestützt werden. Festgestellt wurde ebenso, dass die Befundlage zu Kindern und Jugendlichen einerseits momentan noch geringer ausfällt, andererseits aber auch von stärker ausgeprägten, negativen Aspekten berichtet wird als bei Erwachsenen. Die Befunde legen nahe, dass Merkmale der sozialen Medien, des Individuums und der sozialen Umwelt jeweils Relevanz für die Erklärung einer Problematic Use of Social Media (PUSM vgl. Moretta et al. 2022) haben.
Als Digital Nudging verstehen Kammerl et al. bewusste Designgestaltungen von Elementen der Benutzeroberfläche, die auf die Beeinflussung des Verhaltens der Nutzenden abzielt. Entsprechende Gestaltung können demnach als manipulativ und im (Geschäfts-)Interesse der Dienste liegend erachtet werden. Im konkreten Fall werden diese Gestaltungen eingesetzt um Nutzende von Social Media hinsichtlich ihrer ursprünglichen zeitlichen, monetären und Inhalte rezipierender Intention(en) zu beeinflussen. Diese Methoden können demnach insgesamt als ethisch fragwürdig eingestuft werden, insbesondere, wenn sie Kinder und Jugendliche in ihrer Entscheidungsfreiheit betreffen. Mit dem Begriff Dark Patterns werden Gestaltungsmuster bezeichnet, welche Schwächen der Angebotsnutzenden bei ihrem Reflexionsvermögen und in der Informationsverarbeitung (aus)nutzen. Insbesondere wenn dabei Fehlinformationen eingesetzt werden, Informationen zurückgehalten oder Entscheidungsoptionen mehr oder weniger vorenthalten werden, ist von Dark Patterns die Rede. Dabei wird davon ausgegangen, dass das Interface absichtlich so gestaltet wurde, dass die Nutzung des Angebots auch zu Konsequenzen führt, die nicht der Intention der Angebotsnutzenden entsprechen - auch, wenn nicht notwendigerweise von einer Schädigungsintention der Dienste ausgegangen werden kann.
Insgesamt ist die Forschungslage zum Einfluss von Digital Nudging und Dark Patterns auf eine exzessive Nutzung wenig entwickelt. Relativ deutlich wird, dass vielen Nutzenden der Einsatz dieser manipulativen Techniken nicht bewusst ist („dark pattern blindness“ vgl. Di Geronimo et al. (2021). Aber auch wenn diese erkannt werden, können deren Wirkkraft schlecht eingeschätzt werden und sie werden als zu akzeptierende Rahmenbedingung hingenommen. Die gefundenen Studien liefern noch keine eindeutigen Belege, dass mit Digital Nudging und Dark Patterns auch zielgerichtet eine exzessive Nutzung hervorgerufen werden kann.
Für die Analyse reichweitenstarker und populärer Apps wurden Instagram, TikTok, Snapchat, YouTube und WhatsApp ausgewählt. Diese ergab, dass diese Dienste nicht neutral genutzt werden können, sondern Dark Patterns und Digital Nudges sich vielfach in Nutzungspraktiken einschreiben und diese zu steuern versuchen. Kammerl et al. zeigen dies zunächst in prozesshafter Perspektive für die verschiedenen Nutzungsphasen auf. Die entsprechenden Mechanismen greifen dabei bereits bei der Anschaffung eines Smartphones mit integriertem Betriebssystem und damit vor der aktiven Installation der Apps. Von den anfänglichen Default-Einstellungen über die erste und längerfristige Nutzung bis hin zur Abmeldung oder Löschung des Accounts werden unterschiedliche manipulative Muster relevant.
Es wird nachgewiesen, dass sich viele Dark Patterns in allen analysierten Apps finden. Jedoch ergaben sich auch Unterschiede und Dark Patterns waren in manchen Apps stärker ausgebaut als in anderen.
Im Rahmen der Interwies konnte erhoben werden, dass allen Jugendlichen das Problem vermehrter Nutzung bekannt ist. Die Ursachen dafür werden von diesen oft jedoch in individueller Verantwortung verortet. Sie betrachten zunächst mangelnde Selbstkontrolle, den unbegrenzten Zugang zu interessanten Inhalten und der damit einhergehende Verlust des eigenen Zeitempfindens als entscheidende Einflussfaktoren auf ein Zuviel der Nutzung von Social Media. Auch die Nutzungsweise durch die eigenen Peers bzw. den Inhalten auf den Plattformen wird eine Verantwortung zugeschrieben.
Die Manipulationsmechanismen werden ambivalent betrachtet. Dabei stehen sich die Wahrnehmung der Angebote und ihrer Inhalte als unterhaltsam und beliebter Zeitvertreib sowie der in den Apps angelegte hohe Komfort für die Jugendlichen und das Gefühl, diese Angebote nicht ausufernd nutzen zu wollen, gegenüber. Die Strategien der Jugendlichen, um den Nudging-Mechanismen der Plattformbetreibenden entgegenzuwirken, umfassen Selbststeuerungs- sowie technische Methoden, aber auch kontrollierende Maßnahmen, die von den Eltern ausgeführt werden. Angemessen geschützt oder durch die Plattformbetreibenden unterstützt, um ihre Nutzungsdauer angemessen zu kontrollieren, sehen sich die Jugendlichen nicht. Dies zeigt sich an der Bedeutung von (selbst-)regulierenden Maßnahmen der Jugendlichen. So wird die Beschränkung der Nutzungsdauer oder die Deinstallation von Apps besonders häufig anwendet. Seltener werden Nutzungswege und Strategien angewandt, welche innerhalb der Apps vorsehen sind. Eine besondere Rolle und Legitimation zur Regulierung der Social-Media-Nutzung wird zudem Eltern zugeschrieben, die z.B. durch Kinderschutz-Apps und -Einstellungen Nutzungszeiten ihrer Kinder regulieren können.
Zusammenfassend zeigt sich in den empirischen sekundäranalytischen Auswertungen deutlich, dass unterschiedliche Aspekte für die Entstehung einer problematischen Nutzung sozialer Medien relevant zu sein scheinen. Daraus folgt, dass multikausale Erklärungsansätze sehr wahrscheinlich sind. Insbesondere bestimmte Aspekte der Medienerziehung (z.B. eine geringer ausgeprägte restriktive Mediation) und eine stärker ausgeprägte Hyperaktivität?/?Unaufmerksamkeit scheinen zur Entwicklung einer problematischen Nutzung sozialer Medien beizutragen. Als Handlungsempfehlungen ließen sich aus diesen empirischen Befunden ableiten, dass klare Regeln und ggf. konsequente Einschränkungen der Nutzung sozialer Medien hilfreich sein könnten, um einer zukünftigen problematischen Nutzung sozialer Medien vorzubeugen. Bei bestimmten vorbelasteten Jugendlichen (beispielsweise mit einem Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom) sollte die Nutzung sozialer Medien etwas stärker durch die Eltern begleitet und ggf. ebenfalls reguliert werden, insbesondere, wenn die Fähigkeiten zur Selbstregulation bei dieser Subgruppe etwas geringer als bei anderen Jugendlichen ausgeprägt sind.
Daneben formulieren Kammerl et al. folgende Handlungsempfehlungen:
- Medienanbietende sollen sich zu Verantwortung und ethisches Design (selbst)verpflichten,
- Orientierung sollen Medienabietende durch ethics by design erhalten,
- technische Möglichkeiten zur Eindämmung potentieller Risiken von Dark Patterns und Digital Nudging sollen genutzt werden,
- Freiwillige Selbstkontrollen sollen entsprechende Muster und Gestaltungen bei ihren Alterskennzeichnungen und Freigaben berücksichtigen,
- Medienaufsicht soll gestärkt werden, um Kinder- und Jugendmedienschutz (besser) durchsetzen zu können,
- milieusensible Medienkompetenzförderungen bei Kinder und Jugendlichen sowie Elternarbeit und Fortbildung für pädagogische Fachkräfte wird ebenso wie
- weiterführende Forschung benötigt.
Die Untersuchung „Dark Patterns und Digital Nudging in Social Media - wie erschweren Plattformen ein selbstbestimmtes Medienhandeln?“ wurde als Expertise für die Bayerische Landeszentrale für neue Medien von Prof. Dr. Rudolf Kammerl, J.-Prof. Dr. Michaela Kramer, Dr. Jane Müller, Katrin Potzel, Moritz Tischer und Prof. Dr. Lutz Wartberg gefertigt und im Rahmen der BLM-Schriftenreihe, Band 110 bei NOMOS veröffentlicht und kann hier heruntergeladen werden.
Verweise:
Di Geronimo, L., Braz, L., Fregnan, E., Palomba, F., & Bacchelli, A. (2020). UI dark patterns and where to find them: a study on mobile applications and user perception. In Proceedings of the 2020 CHI. https://sback.it/publications/chi2020.pdf (zuletzt aufgerufen am 04.12.2022).
Moretta, T.; Buodo, G.; Demetrovics, Z. & Potenza, M. (2022). Tracing 20 years of research on problematic use of the internet and social media: Theoretical models, assessment tools, and an agenda for future work. Comprehensive Psychiatry 112 (2022) 152286.